Geschichten von Menschen illustrieren am besten, wie Psyche und Rhetorik zusammenspielen. Geschichten machen trockene wissenschaftliche Themen auch lebendig und erfahrbar. Selbstverständlich sind alle Geschichten anonymisiert und für ihren Lern- und Lehreffekt stilisiert. Sie sind Essenzen aus vielen Jahren Arbeit mit Menschen.
Heute geht es um Gabriela und ihre Stimme*.
Belastende oder traumatische Erlebnisse können an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Sie äußern sich zum Beispiel in der Körpersprache von Eltern und Großeltern, in der Klangfarbe der Stimme oder auch in einer schwer zu greifenden Atmosphäre (Stimmung), die in einer Familie vorherrscht. Wir sprechen dann von vererbten Lebensgefühlen. Es gibt auch transgenerationale Traumata. Sie wirken meistens unbewusst und stehen dem eigenen Lebensweg im Wortsinne "im Wege". Dafür ist Gabriela ein Beispiel:
Gabriela hat einen Termin vereinbart, weil ihre Stimme immer dann, wenn sie aufgeregt oder gestresst ist, so sehr zittert, dass sie nach den ersten Worten nicht weitersprechen kann. Bisher nahm ihr berufliches Umfeld darauf Rücksicht, ihre Kolleg:innen gingen verständnisvoll damit um. Nun ist ihr eine Führungsposition angeboten worden. In dieser neuen Funktion müsste sie regelmäßig vor Gruppen auftreten, bei Veranstaltungen sprechen oder Fachvorträge halten. Die Aussicht auf eine Führungsposition ist für Gabriela der Impuls, sich professionell mit ihrem Thema Stimme auseinanderzusetzen.
Als Gabriela in die Praxis kommt, gelingt es ihr zunächst, in wenigen Sätzen zu erklären, warum sie Unterstützung sucht. Dann kann sie nicht weitersprechen, weil ihr die Tränen kommen. Wir verabreden, uns Zeit zu nehmen, den roten Faden ihres Lebens aufzurollen und markante Punkte und Übergänge genauer anzuschauen. Gabriela wuchs in einer Familie auf, die sie als liebevoll beschreibt, ihre Eltern nennt sie "zugewandt und um mich besorgt, ohne mich einzuengen". Wir kommen dem Zittern ihrer Stimme erst auf die Spur, als wir uns die Biografie ihrer Eltern ansehen. Dabei stoßen wir sowohl im Aufwachsen ihrer Mutter als auch in dem ihres Vaters auf eine traumatische Parallele. Gabriela wirkt angesichts dieser Entdeckung enorm erleichtert. "Meine Selbstzweifel, dass mit mir selbst etwas nicht in Ordnung sei, sind verflogen."
Gabrielas Weg: Der Übergang in eine neue berufliche Rolle gibt Gabriela den Impuls, sich mit ihrer Rhetorik und insbesondere ihrer Stimme zu befassen. Gabriela erkennt, dass es vererbte Trauer ist, die ihr die Stimme wegbrechen lässt. Sie entscheidet sich zunächst für einen pragmatischen Weg: Sie belegt Kurse bei einer Stimmtrainerin, ihre Aufritte als Führungskraft möchte sie in meiner Praxis üben und vorbereiten. Eine spätere Therapie bei einer auf Traumata spezialisierten Kollegin schließt sie nicht aus.
Namen und Angaben zur Person sind anonymisiert, das Fallbeispiel ist inhaltlich verdichtet